Frischer Wind im Kopf für mehr (Selbst-) Wertschätzung

Frischer Wind im Kopf für mehr (Selbst-) Wertschätzung

Sport machen, Erfolgs- oder Glückstagebuch führen, ein positives Mindset aufbauen, sich selbst etwas Gutes tun für mehr Selbstwertgefühl? Das liest sich immer so leicht – leichter als es ist. Solche Listen kursieren zu Hauf durchs Internet und liefern eigentlich mehr Fragen als Antworten; vor allem aber lösen sie nicht das Kernproblem: Die tief in uns verankerten Denkmuster, die uns überhaupt erst ein negatives Selbstbild bescheren. Deswegen sage ich: Nieder mit den festgefahrenen Denkmustern, es lebe der Perspektivenwechsel! Lass uns frischen Wind in den Kopf des Gewohnheitstiers bringen, um uns selbst und andere in unserem Alltag mehr wertzuschätzen.

Psychische Gesundheit: Nächster Halt Individuum

Wir reden gerne von mentaler Gesundheit als wäre es eine Einbahnstraße. Die gesetzlich vorgeschriebene „Gefährdungsbeurteilung psychischer Erkrankungen“ (GB Psych) nimmt hierbei Arbeitgeber*innen in die Pflicht, sich proaktiv um die seelische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu kümmern und Belastungsfaktoren zu beseitigen, sodass eine gesunde Unternehmenskultur etabliert/aufrechterhalten wird, die sich – im besten Fall – nicht negativ auf unser mentales Wohlbefinden auswirkt. Fakt ist jedoch: Psychische Erkrankungen sind multikausal bedingt. Unsere Gesundheit hängt also von verschiedensten Einflussfaktoren ab.

Abgesehen davon führen nicht alle Unternehmen die GB Psych (vollständig) durch und selbst wenn: Eine erfolgreich umgesetzte GB Psych ist auch kein magisches Schutzschild. Unsere Psyche funktioniert wie unser Körper: Wenn wir uns in der Arbeit bei einem Kollegen mit einer Grippe anstecken, sind wir auch zu Hause noch krank – wenn wir in unserem privaten Umfeld belastende Probleme haben, verschwinden sie nicht, sobald wir morgens die Haustüre hinter uns schließen und umgekehrt. Klingt vielleicht nicht sexy, aber es erfordert eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst und an unserem zwischenmenschlichen Umgang, um das Wohlbefinden zu schützen.

Perspektivenwechsel mit Aussicht auf (Selbst-)Wertschätzung

Unser Selbstwert bildet einen zentralen Dreh- und Angelpunkt unserer psychischen Gesundheit und ein niedriges Selbstwertgefühl kann unser Wohlbefinden erheblich beeinflussen. Doch wir kommen nicht mit einem solch negativen Selbstbild auf die Welt. Es ist die Summe aller (negativen) Erfahrungen im sozialen Miteinander, die uns letztlich ein negatives Selbstbild beigebracht haben. Soziale Beziehungen – seien sie familiär, freundschaftlich oder kollegial – begleiten uns überall. Wir haben – und das wird viel zu häufig übersehen – mit unserem Verhalten einen massiven Einfluss auf andere Menschen. Gerade deswegen ist es wichtig, darauf zu achten, wie wir mit uns und mit anderen umgehen.

Denn wir können uns nicht darauf verlassen, dass uns andere ein Umfeld bereiten, in welchem unser Selbstwert und unsere Gesundheit vollständig erhalten bleiben. Das können am Ende nur wir selbst. Manchmal reicht es schon, einfach einmal die Perspektive zu wechseln und alte Gewohnheiten zu hinterfragen, um mit uns selbst und anderen wertschätzender umzugehen. Wir und die anderen – das sind die Konstanten, die überall zu finden sind, egal ob zu Hause, beim Einkaufen, auf dem Arbeitsweg oder auf der Arbeit selbst. Und ein gesundes Selbstwertgefühl macht uns nicht nur zufriedener, sondern auch resistenter gegen Stress und vor allem widerstandsfähiger gegen schwere Zeiten.

Die „Mir-geht-es-gut-Lüge“

Jeder kennt sie, jeder benutzt sie: Die floskelhafte Frage „Wie geht es dir?“. Und wir antworten brav tag ein, tag aus, auf der Arbeit beim Kaffee holen, unter Freunden nach dem Feierabend mit „gut“ als ob wir in einer rosaroten Blase leben würden, in der Probleme schlichtweg nicht existieren. Unser Gegenüber macht es uns artig nach, weil er auf einem Ponyhof lebt. Das höchste der Gefühle ist es, wenn jemand gesteht, dass es etwas – aber wirklich nur etwas – stressig ist. Befindlichkeiten geklärt, gutes Gespräch, Themenwechsel.

Wir lügen: Wir belügen andere und wir belügen uns selbst. Wir proklamieren so häufig, wie wichtig Ehrlichkeit ist und scheitern schon bei der einfachsten Frage. „Mir geht es nicht gut“ – Punkt. Das heißt ja nicht, dass ich meine Lebensgeschichte samt Traumata offenbare oder eine Therapiestunde erwarte. Ich stehe schlichtweg vor anderen zu mir und meinen Gefühlen. Selbstakzeptanz und persönliche Integrität sind tragende Säulen unseres Selbstwertgefühls. Wir tun niemandem weh, wenn wir bei dieser Frage ehrlich sind und entweder wird mein Gegenüber wie gewohnt fortfahren, dann habe ich zumindest etwas für mich selbst getan, oder er wird sich mir öffnen und wir führen ein wirklich gutes Gespräch, ohne das Thema zu wechseln.

Die „Stell-dich-nicht-so-an-Leier“

Und wenn wir gerade schon beim Thema Ehrlichkeit sind: Wie oft hören wir von anderen, wenn wir uns schon dazu aufraffen können, über unser Inneres zu reden, „stell dich nicht so an“, „das ist nicht so schlimm“, „du bist doch gesund, hast ein Dach über dem Kopf, anderen geht es viel schlechter“? Ja, definitiv zu oft! Das Gespräch wird abrupt niedergeschmettert, unsere Gefühle, unsere Probleme und Schwierigkeiten von einem anderen, mehr oder weniger vertrauten, Menschen heruntergespielt – uns wird suggeriert: Du übertreibst, du und deine Gefühle stimmen nicht.

Wir gehen in die Selbstreflexion, versuchen einen Fehler in unserem System zu finden, wir vergleichen uns – und das hat noch niemanden glücklich gemacht. Allen, die solche Sätze in ihrem Alltag zu hören bekommen, sei an dieser Stellt gesagt: Es gibt keinen Fehler im System. Wir haben keinen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen, wir können nicht aus unserer Haut raus. Es gibt keine schlechten oder falschen Emotionen, aber wir können falsch mit ihnen umgehen, indem wir uns durch diesen Irrglauben Verhaltensweisen aneignen, die uns oder auch andere verletzen. Zu wissen, dass das, was ich fühle, okay ist, und mein Gegenüber in diesem Moment – aus welchem Grund auch immer – nicht damit umgehen kann, kann erheblich dazu beitragen, sich selbst besser annehmen zu können.

Der ewige „Ja-Sager“

In puncto Ehrlichkeit haben wir streng genommen noch einiges zu lernen. Kannst du das noch schreiben? Kannst du mir am Wochenende beim Umzug helfen? Kannst du mich nächste Woche zum Arzt fahren? Gehen wir nach der Arbeit noch etwas trinken? Kannst du das dies und jenes noch übernehmen und erledigen? Ja – ich ersticke in Stress, taumle in die nächste Depression, schlafe zu wenig, muss einen Haushalt schmeißen, meine Aufgabenliste reicht von hier bis nach Japan, Freizeit kenne ich nicht – aber JA, gerne, natürlich mache ich das alles.

Wir sagen „ja“ zu unserem Gegenüber, zu seiner Erwartungshaltung, eigentlich zu allem nur nicht zu uns selbst. Wir sagen „ja“, um nicht abgelehnt zu werden, um nicht zu enttäuschen, um Konflikte zu vermeiden, um zu helfen, um nicht egoistisch zu wirken. Wir sagen „ja“, weil wir gelernt haben, dass „nein“ schlecht ist. Doch wir fühlen uns ausgelaugt, vielleicht sogar ausgenutzt von diesem ganzen „ja“. „Nein“ sagen ist nicht leicht. Aber man muss ja niemandem sofort ein herrisches „NEIN!“ ins Gesicht brüllen. Man kann es begründen, sich erklären, um Bedenkzeit bitten, um mit kleinen Babyschritten die eigenen Grenzen zu akzeptieren, zu ihnen und sich selbst zu stehen. Wir werden authentisch und das kann sich sogar zusätzlich positiv auf unsere Fremdwahrnehmung auswirken.

Das „Ego-Shooter-Problem“

Stichwort Kommunikation: Viele spielen das Leben wie einen Ego-Shooter – sie sehen alles nur aus ihrer eigenen Perspektive und walzen andere ohne Rücksicht auf Verluste platt wie eine Dampfwalze. Wir werden angemotzt, weil wir eine Aufgabe nicht rechtzeitig erledigt haben, weil wir etwas vergessen haben und streiten uns mit dem Partner, weil er schon wieder lieber mit Freunden unterwegs ist als den Abend mit uns zu verbringen. Wir schießen andere verbal über den Haufen und wundern uns am Ende noch, warum unser Gegenüber jetzt wütend auf uns ist.

Wir sind voller Fehler. Wir alle tragen unsere eigenen Herausforderungen mit uns herum, die wir irgendwie bewältigen müssen. Wir sind häufig blind für die Gefühle anderer und meistens noch blinder für unsere Fehler, weil es einfach so verdammt viel leichter ist, den anderen die Schuld zu geben. Aber wenn jemand kommuniziert, dass er bspw. unter massivem Termindruck steht und nicht weitermachen kann, solange unsere Aufgabe unerledigt ist oder wenn wir mitteilen, dass wir uns zurzeit einsam und vernachlässigt fühlen, dann verändert sich etwas: Wir rennen nicht mehr auf andere mit einem verbalen Vorschlaghammer los und unser Gegenüber wird sich nicht mehr angegriffen oder verletzt fühlen, weil wir auf einmal über uns selbst reden und nicht nur über die (vermeintlichen) Fehler anderer.

Das „Mehr-Zuckerbrot-als-Peitsche-Konzept“

Eigentlich sind wir im Allgemeinen recht gut darin, uns auf das Negative, auf Fehler und Mängel zu fokussieren – so gut, dass es sogar psychologische Fachbegriffe dafür gibt. Was vielleicht einmal existenzsichernd war, entpuppt sich heute als ein Tsunami an Gemecker, Kritik und Anklagen, der uns regelrecht überrollt und nichts als Ruinen der Positivität hinterlässt. Es scheint beinahe egal zu sein, wie häufig ich etwas richtig mache, wie sehr ich mich bemühe, wie viel ich gelernt habe, weil jeder noch so kleine Fehltritt augenblicklich derart beanstandet wird als hätten all die Fortschritte und Erfolge nie existiert.

Wir sind also nicht nur voller Fehler, die wir lieber auf andere projizieren, zusätzlich werden wir auch noch permanent auf unsere Fehler hingewiesen als würden wir aus nichts anderem bestehen – und das ist, gelinde ausgedrückt, eine denkbar schlechte Kombination: Entweder leidet unser eigener Selbstwert massiv darunter oder wir trampeln unbewusst auf das eines anderen Menschen herum. Anstatt immer nur andere mit der Peitsche vor sich herzutreiben, sollten wir vielleicht häufiger auf das Zuckerbrot zurückgreifen. Ein „danke“ für eine Information, ein simples Lob, ein Lächeln, sich die eine oder andere unnötige Kritik einfach einmal verkneifen, würde schon ausreichen, um all die Menschen um uns herum etwas mehr wertzuschätzen.